Es war ein Drama bis zum Schluss. Nicht nur eine Erklärung, sondern eine Erklärung, die in drei Akten abgegeben wird. Mit bewusst inszenierten Intervallen. In einer hochgeladenen und umstrittenen Ankündigung hat Mesut Özil niemanden verschont. Hier versuche ich, es zu öffnen. Handeln durch Handeln. Szene für Szene. Punkt für Punkt.
Ursprünglich veröffentlicht auf schwarzundweiss.co.uk, 03.08.2018
Worte: Rick D. Joshua. Übersetzung: Wolfgang Steiner
Ein brodelndes Drama
Es war eine skurrile Reise. Am Sonntag, den 22. Juli, um 11:42 Uhr britischer Zeit, gab Özil eine erste Erklärung ab, I/III: Treffen mit Präsident Erdogan. Bei seinem Versuch, sein Treffen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vom 14. Mai zu rechtfertigen, lag Özil genauso daneben wie er und die gesamte deutsche Mannschaft letzten Monat in Russland.
Nach einer gewissen Pause folgte II/III: Medien und Sponsoren. 14:03. Mit dem Wunsch, das Orchester stärker mit einzubeziehen, wechselte der Komponist und Dirigent Özil mit einer scharfen Breitseite gegen Medien und Sponsoren aus der Verteidigung in den Angriff.
Um 19:04 Uhr, nach fünf Stunden und einer Minute, kam schließlich der dritte und letzte Akt: III/III: DFB. In der Auflösung des Stücks, in der sich Özil selbst als tragische Figur inszeniert, sieht dieser sich zum Sprung in den Scheiterhaufen des internationalen Exils gezwungen, und die dunklen Wolken aus Hass, Rassismus und Widrigkeiten verdichten sich. Trotz der minimalen Spuren von Wahrheit war vieles davon ein Drama erster Güte. Brünhild, aber mit einem Hauch von Pantomime.
Angesichts seiner Position als etablierter deutscher Nationalspieler nahm sich Özils Entscheidung, seine dreiteilige Erklärung auf Englisch abzugeben, seltsam aus. Einerseits war er offensichtlich auf der Suche nach einer Verbindung zu seinen vielen internationalen Fans und Anhängern. Andererseits könnte es auch als endgültige Beleidigung für seine Landsleute in der Heimat verstanden werden. Die deutschen Fans würden es schon irgendwie schlucken und selbst übersetzen.
„Verschwörung von Rassisten“
Nach den drei Stellungnahmen begann alles in den sozialen Medien. Mit Argumenten, die schnell an Zahl zunahmen – wie in jedem Online-Diskurs –, kristallisierten sich rasch zwei unterschiedliche Lager heraus. Auf der einen Seite die „Prözils“. Auf der anderen Seite so ziemlich alle anderen. Kritiker, die von den Twitter-Bewohnern aus der Welt des Fußballs zusammengebracht werden. Bestenfalls fehlgeleitet, schlimmstenfalls Fanatiker und verkappte Rassisten.
Sehr schnell ging jegliches Gefühl der Nuancierung verloren. Es ging nicht länger um die unbedarfte Entscheidung des Fußballers, freiwillig an einer PR-Veranstaltung Erdoğans teilgenommen zu haben, oder gar um den völligen Mangel an Reue darüber. Es ging nicht einmal um die schneckenartige Spur der Inkompetenz seitens des DFB und dessen Unfähigkeit, ein simples Besäufnis in einer Brauerei zu managen.
Für Özil ging es um Rassismus. Die Meinung darüber, wie tief das alles geht und wer die Schuld daran trägt, hängt davon ab, wessen Kolumnen man liest und wie man sie versteht. Die Medien. Ehemalige Spieler. Verärgerte Anhänger. Rechte. DFB-Präsident Reinhard Grindel. Der gesamte DFB, wie einige der eher rassenfixierten Schreiberlinge meinen. Selbst der arme alte Jogi Löw, der offensichtlich nicht in der Lage war, den mächtigen Mesut mit seinem Maharishi-Zauber zu fangen.
Es gibt Menschen, die wirklich glauben, dass Özil durch eine Verschwörung von Rassisten – Erzdämon Grindel vorneweg – aus der deutschen Nationalmannschaft gejagt wurde. Ich hingegen habe es für besser gehalten, mich etwas zurückzuhalten. Nach allem, was ich gehört habe, werden einige Leute alle diese gegenteiligen Argumente und Überlegungen zurückweisen. Schließlich darf einer ideologischen Haltung nichts im Wege stehen.
Akt I: „Treffen mit Präsident Erdogan“
Das wäre dann der erste Akt des Dramas. Özils Antwort an seine Kritiker zum Treffen mit Präsident Erdoğan am 14. Mai in London, als jene berüchtigten Bilder erstmals die Runde machten.
The past couple of weeks have given me time to reflect, and time to think over the events of the last few months. Consequently, I want to share my thoughts and feelings about what has happened. pic.twitter.com/WpWrlHxx74
— Mesut Özil (@MesutOzil1088) July 22, 2018
Der Mann mit den zwei Herzen
Wie bei vielen anderen Menschen auch geht meine Abstammung auf mehr als ein Land zurück. Ich bin zwar in Deutschland aufgewachsen, aber meine Familie hat ihre Wurzeln fest in der Türkei. Ich habe zwei Herzen: ein deutsches und ein türkisches. In meiner Kindheit lehrte mich meine Mutter, immer respektvoll zu sein und nie zu vergessen, woher ich komme, und dies sind Werte über die ich bis heute nachdenke.
Wie bei vielen anderen Menschen auch geht Özils Abstammung auf mehr als ein Land zurück. Er hat zwei Herzen. Ein deutsches und ein türkisches. Abgesehen von einigen politischen Randfiguren hat noch nie jemand ernsthafte Einwände dagegen erhoben. Es gibt noch weitere Spieler mit zweierlei Herkunft in der aktuellen deutschen Mannschaft, und es wird sicherlich auch in Zukunft noch viele davon geben. Von niemandem kann erwartet werden, die eigenen Wurzeln zu vergessen.
Als Eröffnungszug ist das alles noch ziemlich gelassen. Es ist sorgfältig ausgearbeitet, um später in Özils Erklärung zu dessen Treffen mit Erdoğan zu münden.
„Keine politischen Absichten“
Im Mai traf ich Präsident Erdoğan in London während einer Wohltätigkeits- und Bildungsveranstaltung. Unsere erste Begegnung fand 2010 statt, nachdem er und Angela Merkel das Spiel Deutschlands gegen die Türkei in Berlin gesehen hatten. Seitdem haben sich unsere Wege rund um den Globus mehrfach gekreuzt. Mir ist klar, dass das Bild von uns in den deutschen Medien eine große Resonanz hervorgerufen hat, und auch wenn mich einige Leute der Lüge oder Täuschung bezichtigen, so stecken doch hinter dem Bild keine politischen Absichten.
Von keiner Seite gibt es Angaben darüber, ob das Treffen eher karitativer Natur oder von Bildungsfragen geprägt war. Nach unserem Dafürhalten war es kaum mehr als ein PR-Gag, eine günstige Gelegenheit für den türkischen Führer für ein paar aufsehenerregenden Aufnahmen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen.
Cumhurbaşkanımız Recep Tayyip Erdoğan, çeşitli temaslarda bulunmak üzere gittiği İngiltere'nin başkenti Londra'da Premier Lig'de oynayan Türk futbolcu Cenk Tosun, Türk asıllı futbolcu Mesut Özil ve Türk asıllı futbolcu İlkay Gündoğan'ı kabul etti. pic.twitter.com/X3ZY8wwCsa
— AK Parti (@Akparti) May 14, 2018
(Obiges Zitat ist aus einem Tweet der Partei Erdoğans, AKP.)
Wenn es bei dieser Veranstaltung auch nur ansatzweise um Wohltätigkeit ging, dann war Erdoğan ihr einziger Begünstigter. Wenn Bildung da irgendeine Rolle spielte, dann nur in dem Sinne, dass den türkischen Wählern Propagandafutter aufgetischt wurde. Sie sollten dahingehend „gebildet“ werden, dass sie sehen, was für ein beliebter Kerl Reccep Tayyip ist.
Naiv oder unendlich dumm
Wie gesagt, meine Mutter hat immer darauf geachtet, dass ich nie meine Abstammung, mein Erbe und meine Familientraditionen aus den Augen verliere. Für mich hatte das Bild mit Präsident Erdogan nichts mit Politik oder Wahlen zu tun, sondern mit der Achtung vor dem höchsten Amt im Heimatland meiner Familie. Ich bin Fußballspieler und kein Politiker, und unser Treffen stellte keine Unterstützung für irgendeine Politik dar. Im Grunde sprachen wir über das gleiche Thema wie immer, wenn wir uns sehen – über Fußball –, da auch er in seiner Jugend gespielt hat.
Selbst wenn man sich zu der Annahme entschließt, dass Özil weder gelogen noch betrogen hat, so hätten doch seine Berater wissen sollen, dass das Treffen in London nur einer Person helfen konnte. Die Frage drängt sich auf, was Özil als Gegenleistung für die kostenlose Wahlwerbung für Erdoğan erwarten konnte. Vor allem angesichts der offenkundigen Gefahr der öffentlichen Schmähung in Deutschland.
Fakt ist, dass Özil Erdoğan oder dessen Politik nicht einmal offen befürworten musste. Das Colgate-Lächeln und das signierte Arsenal-Trikot waren schlimm genug. Was in vielen Artikeln zu diesem Thema sorgfältig übersehen wurde, ist, dass Erdoğan nicht nur ein Tyrann in seinem eigenen Land ist, sondern auch andernorts unbefugt mitmischt. Im Bestreben um die Unterstützung – und Stimmen – der ethnischen Türken waren er und seine Leute nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen westeuropäischen Ländern wie Belgien und den Niederlanden aktiv.
Erdoğan hat sich ständig gegen Assimilation gewehrt; seine Taktik bestand darin, die in Europa lebenden türkischstämmigen Bürger zu einer islamistischen Denkweise anzuspornen. Man kann völlig zu Recht behaupten, dass der türkische Führer und seine Unterstützer nicht im Einklang mit den europäischen Werten stehen.
Die deutschen Amtsträger, die es wagten, seinen zynischen Wahlkampf zu kritisieren, wurden von dem schrillen Türkenführer kurzerhand als „Nazis“ abgetan. Das ließ sich kaum übersehen, es sei denn, man lebte hinter dem Mond. Es bleibt nur der Schluss, dass Özil entweder unglaublich naiv, unheilbar dumm oder aber von Beratern und Agenten gesteuert wurde, die genau wussten, was sie da taten.
Ob Erdoğan in seiner Jugend auch Fußball spielte oder nicht, ist völlig unerheblich. Der ugandische Diktator Idi Amin war ehemaliger Boxmeister, bevor er anfing, seine politischen Gegner den Krokodilen im Nil zum Fraß vorzuwerfen. Wenn Özil sich auf seine Mutter beruft, ist das nichts anderes als emotionaler Ballast.
„Ich habe mich mit einem islamistischen Tyrannen getroffen und ihm ein handsigniertes Trikot überreicht, weil Mami es so wollte.“ Genau. Das kannst du deiner Großmutter erzählen.
Respekt und Respektlosigkeit
Es kommt noch besser. Viel besser.
Entgegen der Darstellung in den deutschen Medien ist es doch so, dass eine Verweigerung des Treffens mit dem Präsidenten einer Missachtung der Wurzeln meiner Vorfahren, die heute sicherlich stolz auf mich wären, gleichgekommen wäre.
Es ist durchaus in Ordnung, die Wurzeln der eigenen Vorfahren zu respektieren. Dies jedoch mit der Person Recep Tayyip Erdoğan in Verbindung zu bringen, ist bestenfalls absurd. Nicht nur absurd, sondern lachhaft.
Man kann den eigenen Wurzeln auch nahe sein, ohne sich mit Politikern von zweifelhaftem Ruf zu verbünden. Seit seiner Wahl ins Amt im Jahr 2014 hat der türkische Präsident mit Hochdruck daran gearbeitet, die säkularen Prinzipien, die die moderne Türkei seit knapp einem Jahrhundert ausmachen, zurückzuentwickeln. Mesut Özil mag das anders sehen, aber Erdoğan ist nicht die Türkei, und die Türkei ist nicht Erdoğan.
Die Entscheidung, Erdoğan nicht zu treffen, wäre eine echte Stellungnahme gewesen. So sah es die CDU-Politikerin Serap Güler, die derzeit als Staatssekretärin für Integration in Özils Heimatland Nordrhein-Westfalen fungiert – und ebenfalls türkischer Abstammung ist. Gülers Position war schlicht: „Die Einladung eines Autokraten auszuschlagen, wäre nicht respektlos gewesen. Es hätte Haltung gezeigt.“
Wäre es Özil wirklich darum gegangen, seinen Vorfahren Respekt zu zollen, hätte er Kemal Atatürks Mausoleum Anıtkabir besucht. Niemand hätte sich über ein Foto von dort beschwert.
„Egal“
Mir war egal, wer Präsident war – wichtig war, dass er der Präsident war. Die Achtung vor dem politischen Amt ist eine Sichtweise, die sicherlich auch die Königin von England und Premierministerin Theresa May vertraten, als sie Erdogan in London empfingen. Ob es nun der türkische oder der deutsche Präsident gewesen wäre, ich hätte da keinen Unterschied gemacht.
Glaubt Özil das wirklich? Der Vergleich mit der Königin von England und der britischen Premierministerin Theresa May ist absolut abwegig. Die Queen ist ein Staatsoberhaupt. An Staatsbanketts mit anderen Staatsoberhäuptern muss sie teilnehmen und sich auch mit Leuten wie Erdoğan treffen.
Seit der Abschaffung des Amtes des Premierministers in der Türkei ist Erdoğan auch der Chef der türkischen Regierung. Damit wäre Theresa May bei einer Zusammenkunft von Staats- und Regierungschefs verpflichtet, auch ihn offiziell zu treffen.
Dieses Protokoll gilt eindeutig nicht für Mesut Özil, der sich aus freien Stücken dazu entschieden hat, die Einladung in ein Londoner Hotel als Privatperson anzunehmen.
Was seinen Respekt vor dem Amt des türkischen Präsidenten angeht, so steht Özil auch dort im Abseits. Erdoğan hat das Amt erst seit 2014 inne, und Özil hatte sich auch schon lange zuvor mit ihm getroffen. Indessen gibt es keinerlei Berichte darüber, dass der Spieler jemals Erdoğans Vorgänger, Abdullah Gül, getroffen hätte.
Mir ist klar, dass dies möglicherweise nicht für jeden nachvollziehbar ist, denn in den meisten Kulturen lässt sich der politische Führer kaum als von der Person getrennt betrachten. In diesem Fall ist es aber anders. Wie auch immer die letzte Wahl ausgefallen wäre, oder die Wahl davor, ich hätte das Foto so oder so gemacht.
Ich kann das nur schwer nachvollziehen, ebenso wie die vielen Millionen türkischen Bürger, die nicht für Erdoğan gestimmt haben. Nicht zu vergessen alle diejenigen, die derzeit in Erdoğans Gefängnissen schmoren.
Der letzte Satz ist vielleicht der vernichtendste von allen. Darin sagt er uns, dass jede Form von Reue, geschweige denn eine Entschuldigung, völlig ausgeschlossen ist. Weder nach der Veranstaltung noch nach den Vermittlungsversuchen des DFB noch jetzt.
Akt II: Medien und Sponsoren
Nach dem krachenden Crescendo von Akt I sehen wir zum Auftakt von Akt II Özils größte Annäherung an irgendeine Art von Selbstkritik. Diese kommt jedoch nicht sehr weit, denn die Trommeln beginnen schon wieder zu wirbeln, um etwas einzuläuten, dass sich wohl am besten als eine Übung in Taktiererei beschreiben lässt.
II / III pic.twitter.com/Jwqv76jkmd
— Mesut Özil (@MesutOzil1088) July 22, 2018
Das Vorwurfsspiel
Viele Leute reden über meine Leistungen – einige loben, andere kritisieren. Wenn eine Zeitung oder ein Fachmann Fehler in meinem Spiel ausmachen, dann kann ich das akzeptieren – ich bin kein perfekter Fußballer und das motiviert mich oft, noch härter zu arbeiten und zu trainieren. Was ich aber nicht akzeptieren kann, ist, dass die Medien in Deutschland immer wieder meine doppelte Herkunft und ein simples Foto im Namen der gesamten Mannschaft für die schlechte Weltmeisterschaft verantwortlich machen.
Nach ein paar vielversprechenden Sätzen stehen unterm Strich doch nur falsche Töne. Özil wirft den deutschen Medien vor, „immer wieder“ seine doppelte Herkunft für das kollektive Scheitern der Mannschaft verantwortlich zu machen, doch auch wenn es vereinzelt Andeutungen in diese Richtung gegeben haben mag, so war der Großteil der Kritik (zu Unrecht oder nicht) doch auf Özils Leistung bezogen.
Unter Özils lautesten Kritikern waren auch ehemalige Spieler. Mario Basler vertrat die Ansicht, dass der Spielmacher massiv überbewertet worden sei, und warf ihm vor, „die Körpersprache eines toten Frosches“ an den Tag gelegt zu haben. Das mag zwar als Seitenhieb auf Özils Aussehen zu verstehen gewesen sein, es hatte aber nichts mit seiner Herkunft zu tun. Lothar Matthäus ist ein weiterer Ex-Bundesligaspieler mit Auslandserfahrung, der sich zu Wort meldete, und auch bei ihm lag der Schwerpunkt auf der mangelnden Leidenschaft Özils als Spieler im Deutschland-Trikot. Ebenso bei Stefan Effenberg.
Während einige der Kommentare an die Grenzen des guten Geschmacks stießen, gab es doch nie eine Anspielung auf Özils Migrationshintergrund.
Da taucht das Leitmotiv des Erdoğan-Fotos wieder auf, und Özil spielt es erneut herunter. „Ein simples Foto“, sagt er. Kein weiterer Kommentar.
„Rechte Propaganda“
Einige deutsche Zeitungen nutzen meinen Hintergrund und mein Foto mit Präsident Erdogan für ihre rechte Propaganda und um ihre politische Sache voranzutreiben. Warum sonst benutzten sie Bilder und Schlagzeilen mit meinem Namen als direkte Erklärung für die Niederlage in Russland?
Und noch mehr Absurdität. Es besteht kein Zweifel daran, dass einige deutsche Medien Özil vor und nach dem Turnier zu Unrecht ins Visier nahmen. Aber zu behaupten, dass es sich dabei um ein Komplott im Dienste einer ausgeklügelten rechten Propaganda gehandelt habe? Ernsthaft? Was die Medien betrifft, die politische Absichten verfolgen oder irgendwelche Hühnchen rupfen wollen, so erweist sich Özils Anschuldigung doch als ziemlich lachhaft.
Man kann durchaus feststellen, dass Özil, abseits des Erdoğan-Vorfalls, zu einem Sündenbock für das Scheitern Deutschlands in Russland geworden ist. Nicht wenige negative Schlagzeilen wurden von Abbildungen der Nummer zehn der deutschen Mannschaft begleitet. Dahinter steckte jedoch nicht die Systematik, die einige uns weismachen wollen. Nach der Niederlage gegen Südkorea war es Toni Kroos‘ und nicht Özils Bild, das zusammen mit den dramatischen Schlagzeilen auf den Rückseiten verewigt war.
Von den drei großen Zeitungen in Deutschland, die man als politisch rechts von der Mitte bezeichnen kann, kommentierte die Boulevardzeitung Bild schlicht „Keine Worte“ und zeigte ein Bild von Kroos. Auch die seriösere Zeitung Die Welt zeigte ein Bild von Kroos mit dem eigenen Kopf in der Hand. Die Überschrift dazu: „Ende der Durchsage“. Die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung warf einen eher sachlichen Blick auf das Eröffnungstor der Südkoreaner.
Sie haben nicht meine Leistung kritisiert. Sie kritisierten auch nicht die Leistung der Mannschaft, sondern nur meine türkische Abstammung und meine Wertschätzung für meine Erziehung. Das überschreitet eine persönliche Grenze, die nie überschritten werden sollte, denn die Zeitungen versuchen damit, die deutsche Nation gegen mich aufzubringen.
Die Bild hatte die gesamte Nationalelf mit Null bewertet nach der Niederlage gegen Südkorea. Die Welt hatte Özil zusammen mit fünf weiteren Spielern, nämlich Sami Khedira, Toni Kroos, Thomas Müller, Marvin Plattenhardt und Timo Werner, die niedrigste Punktzahl gegeben.
Es gab negative Schlagzeilen, ja. Was etwaige andere Motive angeht – ob rassistisch, rechtsgerichtet oder sonst was –, so haben diese einzig im Kopf des Fußballers selbst existiert. Zu keinem Zeitpunkt war klar erkennbar, dass Özil wegen seines Hintergrunds oder seines kulturellen Erbes ins Visier genommen wurde.
Selbst wenn es je irgendein Komplott gegeben hätte, das die rechte Presse mit irgendeiner unergründlichen politischen Absicht im Schilde gegen ihn geschmiedet hätte, warum hat man sich dann auf Özil beschränkt? Jérôme Boateng hat eine schockierende Weltmeisterschaft abgeliefert, was durch die rote Karte im Spiel gegen Schweden vollends abgerundet wurde. Sami Khedira war bei seinen beiden Auftritten in Russland, wo er schon frühzeitig vom Feld genommen wurde, schlichtweg grauenhaft.
Die Strohmänner: Lothar Matthäus und Wladimir Putin
Lothar Matthäus hat sich seit seinem Rückzug intensiv mit dem Sport beschäftigt. Als Trainer war der Kapitän des WM-Siegers von 1990 alles andere als herausragend. Seine Kommentare als Experte haben oft zu wünschen übrig gelassen. Auf sein Privatleben passt so ziemlich jede Beschreibung von Komödie bis Autounfall. Trotz Matthäus‘ Status als einer der größten Spieler, der je das deutsche Nationaltrikot getragen haben, hat ihn sein Werdegang nach dem aktiven Sport oft selbst zur Zielscheibe der Medien werden lassen.
Manchmal jedoch sind gerade die größten Ziele am schwersten zu treffen. Matthäus war einer der lautesten Kritiker von Mesut Özil und konzentrierte sich dabei weitgehend auf das Sportliche. Hätte sich Özil in seiner Stellungnahme vielmehr darauf konzentriert, hätte er vielleicht etwas Gehaltvolleres zu sagen gehabt. Stattdessen baute er lieber einen Strohmann.
Genauso enttäuschend finde ich die Doppelmoral der Medien. Ehrenspielführer Lothar Matthäus traf vor einigen Tagen ebenfalls einen großen Staatschef und wurde dafür so gut wie gar nicht kritisiert in den Medien. Trotz seiner Rolle beim DFB wurde er nicht aufgefordert, sein Handeln öffentlich zu erklären, und er vertritt nach wie vor die deutschen Spieler ohne jegliche Rüge.
Das ist ein klassisches Ablenkungsmanöver – Taktiererei in Reinkultur. Außerdem werden hier Äpfel mit Orangen verglichen.
Wir alle kennen die Bilder von Matthäus mit dem russischen Führer Wladimir Putin. Ja, da ist er. Die ehemalige deutsche Fussballgröße schüttelt Putin die Hand und tauscht Liebenswürdigkeiten aus. Es sieht nicht gut aus und erinnert an Özils Treffen mit Erdoğan. Bis man erkennt, dass Matthäus nicht als Privatperson oder gar im Auftrag des DFB dort war, sondern als Vertreter der FIFA.
Als Legenden des Fußballs sah man Matthäus und einige weitere in Begleitung von FIFA-Chef Gianni Infantino auf einer Reihe von turnierrelevanten Veranstaltungen. Zu diesen weiteren zählten der dänische Nationalspieler Peter Schmeichel, der Niederländer Marco van Basten, der brasilianische WM-Sieger Ronaldo sowie je ein Vertreter der englischen Männer- und Frauenmannschaft, Rio Ferdinand und Alex Scott.
From that 8 year old on my estate playing cage football, fast forward to sitting alongside the president of FIFA discussing the power of world football in the Kremlin today🙋🏽♀️😳 #WorldCup #fifa pic.twitter.com/3aXCvMo424
— Alex Scott MBE (@AlexScott) July 6, 2018
Von jenem Achtjährigen, der auf dem Grundstück Käfigfußball spielte, bis heute zu einem Gespräch mit dem FIFA-Präsidenten über die Macht des Weltfußballs im Kreml
Es gab keine spezielle Agenda. Es war einfach ein Treffen großer Namen aus der Welt des Fußballs, die sich mit Infantino und dem Präsidenten des Gastgeberlandes trafen.
Wenn die Medien der Meinung sind, dass ich aus dem WM-Kader hätte gestrichen werden sollen, dann sollte er [Matthäus] aber seines Amtes als Ehrenspielführer enthoben werden? Macht mich mein türkisches Erbe zu einem würdigeren Ziel?
Nein, Mesut. Dein türkisches Erbe macht dich nicht zu einem „würdigeren“ Ziel. Es sei denn, du bist der Ansicht, dass Recep Tayyip Erdoğan ein würdiger Vertreter des türkischen Erbes ist.
Was Matthäus angeht, so gibt es keinen Grund, darauf einzugehen. Der Vergleich ist lachhaft.
Kein Unterricht im Sommer
Özil schwenkt plötzlich um und kommt auf seine alte Schule zu sprechen, die Berger Feld in Gelsenkirchen:
Ich habe immer gedacht, dass eine „Partnerschaft“ Unterstützung bedeutet, sowohl in guten Zeiten wie auch in schwierigen Situationen. Vor kurzem hatte ich vor, meine ehemalige Schule Berger Feld in Gelsenkirchen mit zwei meiner gemeinnützigen Partner zu besuchen. Ich hatte ein Jahr lang ein Projekt finanziert, bei dem Einwandererkinder, Kinder aus armen Familien und andere Kinder gemeinsam Fußball spielen und soziale Regeln fürs Leben lernen konnten.
Doch einige Tage vor unserer geplanten Abreise sprangen meine „Partner“ ab, da sie zu dem Zeitpunkt nicht mehr mit mir zusammenarbeiten wollten. Außerdem teilte die Schule meinem Management mit, dass sie mich nicht mehr dabei haben wollten, weil sie wegen meines Fotos mit Präsident Erdogan „die Medien fürchteten“, insbesondere im Hinblick auf die „aufstrebende Rechtspartei in Gelsenkirchen“. Das tat, offen gesagt, weh. Auch wenn ich früher selbst Schüler dieser Schule war. Mir wurde das Gefühl vermittelt, dass ich nicht erwünscht und ihrer Zeit nicht würdig sei.
Das mag zwar alles traurig sein, es ist aber nichts sonderlich Unangemessenes daran zu erkennen, dass die Schule einen Rückzieher machte. Erdoğan ist nicht nur ein Tyrann, sondern ein Eindringling, der sich in deutsche Angelegenheiten einmischt. Womöglich hat es eine Reaktion nicht nur von lokalen Politikern und dem Schulpersonal, sondern auch von den Eltern der Schüler gegeben. Gelsenkirchen hat eine große türkische Gemeinde, und die Geschichte hätten eine böse Wendung nehmen können.
Zufälligerweise ist Özil auch hier wieder sparsam im Umgang mit der Wahrheit. Nach Angaben des Leiters des Berger Feldes habe es Terminprobleme gegeben. Maike Selter-Beer hat eingeräumt, dass es zudem ernsthafte Bedenken bezüglich der Reaktion von rechts gegeben habe, sagte aber auch, dass dies mit den Anwälten von Özil erörtert worden sei. Es war nicht so sehr eine Ablehnung von Özil, sondern eine Entscheidung für mehr Sorgfalt bei der Gestaltung der Beziehung.
Was das Empfinden Özils, unerwünscht und der Zeit der Schule für unwürdig befunden worden zu sein, betrifft, so steht auch dies im Widerspruch zu den Fakten. Laut Selter-Beer freut sich die Schule durchaus, ihren ehemaligen Schüler begrüßen zu dürfen. Entweder lügt die Schule, oder Özil schönt hier die Fakten, um ein paar wertvolle emotionale Bonuspunkte zu sammeln. Es zeigt jedenfalls, wie weit er zu gehen bereit ist, um sich selbst als Opfer darzustellen. Selbst seine ehemalige Schule ist „rassistisch“.
Im selben Artikel schreibt Selter-Beer, dass ein Besuch im Frühherbst anberaumt ist. Es wird interessant sein zu sehen, was die lokalen Medien zu sagen haben, wenn Özil an den Schultoren auftaucht.
Mesut und Mercedes-Benz – und noch mehr Taktiererei
Als nächstes setzt Özil zum Schlag gegen den deutschen Automobilhersteller Mercedes-Benz an.
Noch ein Partner hat mich verleugnet. Da das Unternehmen auch Sponsor des DFB ist, hatte es mich gebeten, an Werbevideos zur Weltmeisterschaft teilzunehmen. Doch nach meinem Foto mit Präsident Erdogan nahm man mich aus den Kampagnen und sagte alle geplanten Werbeaktionen ab. Man hielt es für keine gute Idee mehr, sich mit mir zu zeigen, und verbuchte das Ganze als „Krisenmanagement“.
Das ist ganz schön ironisch, wenn man bedenkt, dass ein Bundesministerium erklärt hat, dass die Produkte dieses Unternehmens rechtswidrige und nicht autorisierte Software-Geräte enthalten, die ein Risiko für die Kunden darstellen. Diese Produkte werden zu Hunderttausenden zurückgerufen. Während ich vom DFB kritisiert und zur Rechtfertigung meines Handelns aufgefordert worden bin, wurde vom Sponsor des DFB keine solche offizielle und öffentliche Erklärung verlangt. Warum nicht? Habe ich nicht Recht, wenn ich denke, dass dies schlimmer ist als ein Bild mit dem Präsidenten des Landes meiner Familie? Was sagt der DFB dazu?
Mercedes-Benz hat eine Untersuchung der Vorwürfe Özils eingeleitet, hat aber bisher weder bestätigt noch dementiert, dass der Spieler nach seinem Treffen mit Erdoğan aus den Marketingkampagnen gestrichen worden sei.
Was die illegale Software in den Fahrzeugen von Mercedes angeht, so macht sich Özil hier der völlig unverhältnismäßigen Verdrehung eines Sachverhalts schuldig. Man kann ihn dafür entschuldigen, dass er keine genauere Kenntnis der Materie hat, aber auch hier scheinen sich seine Berater nicht die Zeit genommen zu haben, ihn mit präzisen Informationen zu versorgen.
Im Gegensatz zu dem noch immer brodelnden Dieselskandal um Volkswagen betrifft das Thema bei Mercedes-Benz nur eine kleine Anzahl von Fahrzeugen. Die untersuchten Motoren wurden nicht einmal von Mercedes-Benz selbst, sondern von Renault hergestellt.
Zwar hat das Kraftfahrt-Bundesamt Mercedes-Benz aufgefordert, eine Reihe verdächtiger Fahrzeuge zurückzurufen, doch besteht für die Kunden kein konkretes Risiko.
Vor dieser unsinnigen Taktiererei war Özil selbst stolzer Besitzer mehrerer Fahrzeuge der Marke Mercedes-Benz. Geparkt hat er sie zudem gern auch mal illegal auf den Straßen Londons. Wenn ihm das Thema wirklich so sehr am Herzen liegt, sollte er sich vielleicht von den teuren AMGs trennen, die in seiner Garage stehen.
Wohltätigkeitsarbeit
Wie viele Profisportler hat auch Özil viel Zeit und Geld in Wohltätigkeitsprojekte gesteckt. Dafür gebührt ihm Anerkennung.
Wie gesagt, „Partner“ sollten in jeder Situation zu einem halten. Adidas, Beats und Big Shoe waren in dieser Phase äußerst loyal und großartig in der Zusammenarbeit. Sie stehen über dem Gerede der deutschen Presse und Medien, und wir ziehen unsere Projekte, an denen ich sehr gerne teilnehme, auf professionelle Art und Weise durch.
Während der Weltmeisterschaft arbeitete ich mit Big Shoe zusammen und verhalf 23 kleinen Kindern in Russland zu lebensverändernden Operationen, wie zuvor schon in Brasilien und Afrika. Das ist für mich das Wichtigste an meiner Tätigkeit als Fußballspieler; aber die Zeitungen finden keinen Platz, um das Bewusstsein für diese Art von Dingen zu schärfen.
Sie messen ein paar Buhrufen oder einem Foto mit einem Präsidenten mehr Bedeutung bei als meiner Unterstützung von Kindern weltweit durch Operationen. Auch sie verfügen über eine Plattform, über die sie für mehr Bewusstsein und finanzielle Mittel werben könnten, aber sie verzichten darauf.
In einer perfekten Welt halten „Partner“ in allen Situationen zusammen. Aber wenn eine der beiden Seiten eine Situation schafft, die zu einem Problem führen kann, muss wohl selbst der engste Partner die möglichen Folgen prüfen und die Beziehung neu bewerten. Adidas, Beats und Big Shoe hielten gern an Özil fest, andere nicht. So läuft das in der Geschäftswelt.
In aller Fairness neigen Zeitungen nicht dazu, über schöne Dinge zu berichten. Schöne Dinge sorgen in der Regel nicht für Schlagzeilen. Es ist wahr und etwas enttäuschend, dass Özils gemeinnützige Arbeit in den Medien kaum zur Sprache kommt. Das Gleiche gilt jedoch auch für andere deutsche Spieler, die sich in der Vergangenheit und Gegenwart stark für gemeinnützige Zwecke engagiert haben, wie Lukas Podolski, Philipp Lahm, Thomas Müller und Mats Hummels.
Akt III: DFB
Der zweite Akt lässt sich am besten als eine Abfolge von Wellen der Taktiererei beschreiben, die in einem eher sanften Klagegesang münden. Er ist die Ruhe vor dem Sturm der mit Akt III kommt, in dem sich Özil so richtig austobt. Er kämpft und schlägt um sich und lässt sich schließlich als Opfer auf den Scheiterhaufen fallen.
III / III pic.twitter.com/c8aTzYOhWU
— Mesut Özil (@MesutOzil1088) July 22, 2018
Die Dinge richtigstellen. Oder auch nicht.
Am 19. Mai trafen sich Özil und İlkay Gündoğan in Berlin mit DFB-Präsident Reinhard Grindel, Teamchef Oliver Bierhoff und Nationaltrainer Jogi Löw. Dieses Treffen hätte ein Schlussstrich unter dem Thema sein können. Für Gündoğan lief alles nach Plan. Für Özil eher nicht.
Was mich in den vergangenen Monaten wohl am meisten frustriert hat, ist die schlechte Behandlung durch den DFB und insbesondere durch DFB-Präsident Reinhard Grindel. Nach meinem Foto mit Präsident Erdogan bat mich Joachim Löw, meinen Urlaub abzubrechen und nach Berlin zu fahren, um eine gemeinsame Erklärung abzugeben und dem ganzen Gerede ein Ende zu setzen und die Dinge richtigzustellen.
Wenn Özil tatsächlich versucht hat, die Sache klarzustellen, dann war das alles andere als ein Erfolg. Niemand kennt die genauen Worte, die in Berlin ausgetauscht wurden, und wie es Grindel gelungen ist, die Meinung Özils „kleinzureden“.
Was wir wissen, ist, dass der DFB, nachdem die Geschichte fünf Tage zuvor begonnen hatte, sofort eine Erklärung abgab, in der er das Verhalten beider Spieler verurteilte. Grindel hatte unmissverständlich erklärt, dass die Werte des Verbandes mit denen des türkischen Präsidenten nicht vereinbar seien. Alles ziemlich klar, sollte man meinen.
(1/2) Der #DFB respektiert und achtet selbstverständlich die besondere Situation unserer Spieler mit Migrationshintergrund. Aber der Fußball und der DFB stehen für Werte, die von Herrn Erdogan nicht hinreichend beachtet werden.
— Reinhard Grindel (@DFB_Praesident) May 14, 2018
Daraus folgte, dass sich sowohl Özil als auch Gündoğan an der Position des DFB ausrichten mussten, wenn sie „die Dinge richtigstellen“ wollten. Das, so sollte man meinen, war der Zweck des Treffens in Berlin.
Während ich versuchte, Grindel mein Erbe, meine Herkunft und damit die Beweggründe für das Foto zu erklären, war er viel mehr darauf aus, über seine eigenen politischen Ansichten zu sprechen und meine Meinung kleinzureden.
Wenn Özils „Erklärung“ seines Treffens mit Erdoğan auch nur annähernd derjenigen in seinem Dreiakter gleichkommt, ist es wohl kaum verwunderlich, dass er nicht sehr weit kam. Offensichtlich hatten Grindel und der DFB auf ein Zugeständnis gehofft, oder wenigstens auf ein Bekenntnis. Wenn Özil nicht bereit war, zuzugeben, dass sein Treffen mit dem türkischen Präsidenten ein Fehler war, dann hat es auch nie eine Chance auf einen Kompromiss gegeben.
Was Grindels „Kleinreden“ von Özils Meinung angeht, so hat sich der Fußballer bewusst dazu entschieden, das Bemühen des DFB-Präsidenten um eine Einigung auf ebendiese Weise zu interpretieren. Während Gündoğan noch bereit war, wenigstens etwas von dem Treffen mitzunehmen und eine Erklärung abzugeben, war Özil dies nicht. Das führte ihn direkt in eine Sackgasse.
— Ilkay Gündogan (@IlkayGuendogan) May 19, 2018
Man kann sich vorstellen, wie es aus der Sicht beider Parteien abgelaufen ist. Reinhard Grindel stellte die Werte des DFB klipp und klar dar – Özil weigerte sich, da mitzuspielen. Aus Özils Sicht sprach der DFB-Präsident nur „über seine eigenen politischen Ansichten“.
Auch wenn sein [Grindels] Vorgehen herablassend war, konnten wir uns doch darauf verständigen, dass das Beste wäre, sich auf den Fußball und die bevorstehende Weltmeisterschaft zu konzentrieren. Deshalb habe ich während der WM-Vorbereitung nicht am Medientag des DFB teilgenommen. Ich wusste, dass Journalisten, die über Politik diskutieren wollen statt über Fußball, mich nur angreifen würden, auch wenn Oliver Bierhoff in einem Fernsehinterview vor dem Spiel gegen Saudi-Arabien in Leverkusen das ganze Thema für erledigt erklärt hatte.
Am Ende einigten sich beide Seiten darauf, sich nicht zu einigen. Nur weil Grindel, der bereit war, Özil aus der Mannschaft zu werfen, von Löw und Bierhoff zur Zurückhaltung genötigt worden war. Das Problem konnte durch das Treffen nicht beseitigt werden; es bedurfte einer einheitlichen Front zur Lösung. Durch ein Übertapezieren der Risse. Die offizielle Version war, dass der DFB das Problem gelöst hatte, und genau diese Version wurde in die deutsche Öffentlichkeit getragen. Vermutlich gegen sein besseres Urteilsvermögen gab Grindel eine entsprechende Erklärung ab.
Die Hoffnung war, dass sich das Problem von selbst lösen würde. Das tat es nicht.
Für die meisten aufmerksamen Außenstehenden war bereits erkennbar, dass Grindel und der DFB die Sache manipuliert hatten. Nach der offiziellen Darstellung war alles mit den beiden Spielern geklärt worden; eigentlich aber hatte nur Gündoğan sich geäußert. Die Stille von Özil auf der anderen Seite war ohrenbetäubend. Zu niemandes Überraschung weigerten sich die Medien, von dem Thema abzulassen.
Treffen mit dem Präsidenten
Um die Folgen des Treffens mit dem türkischen Präsidenten abzumildern, trafen sich die beiden Fußballer schließlich auch mit ihrem eigentlichen Präsidenten, Frank-Walter Steinmeier. Laut dem Bundespräsidenten selbst stammte die Idee dazu von Gündoğan. Das Treffen verlief recht gut, trug aber nicht viel zur Lösung des Erdoğan-Problems bei.
In dieser Zeit traf ich mich auch mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Im Gegensatz zu Grindel verhielt sich Präsident Steinmeier professionell und zeigte aufrichtiges Interesse dafür, was ich über meine Familie, meine Herkunft und meine Entscheidungen zu sagen hatte. Ich erinnere mich noch daran, dass das Treffen nur zwischen mir, Ilkay und Präsident Steinmeier stattfand und dass Grindel verärgert war, weil er nicht dabei sein durfte und seine eigene politische Agenda nicht vorantreiben konnte.
Ich einigte mich mit Präsident Steinmeier darauf, dass wir eine gemeinsame Erklärung zu dem Thema abgeben würden, um erneut zu versuchen, das Hauptaugenmerk auf den Sport zu lenken. Grindel ärgerte sich jedoch, dass es nicht sein Team war, das die erste Stellungnahme abgab und dass Steinmeiers Pressestelle die Führung in dieser Angelegenheit übernehmen musste.
So klar war die Angelegenheit nicht. Beim Anblick des Fotos der beiden Spieler mit Erdoğan war das deutsche Staatsoberhaupt „ratlos“. Auch wenn sich Steinmeier generell eher verständnisvoll äußerte, zeigte er sich doch überrascht darüber, dass sich die beiden nicht der Konsequenzen einer Begegnung mit dem umstrittenen türkischen Staatsoberhaupt bewusst gewesen waren.
In einem Interview mit der Zeit konnte Steinmeier nicht bestätigen, dass die Spieler ihm eine Entschuldigung angeboten hätten. Für ihn war das eine „Frage der Interpretation“.
Unabhängig davon, was gesagt worden war, hat es doch kaum dazu beigetragen, die Position Özils gegenüber dem DFB zu ändern. Für Steinmeier war es zudem leichter, eine großherzigere Position einzunehmen, da er im Gegensatz zu Grindel nichts zu verlieren hatte. Er als Bundespräsident war nicht für die Fußballmannschaft verantwortlich.
Was Grindel betrifft, der „verärgert“ darüber war, von dem Treffen mit Präsident Steinmeier ausgeschlossen gewesen zu sein, so werden wir nur dann wirklich wissen, was passiert ist, wenn er uns seine eigene Version der Geschichte vorträgt. Auffällig ist, dass Özil trotz seines politischen Desinteresses ziemlich viel über die „politische Agenda“ des DFB-Präsidenten zu wissen scheint.
Inkompetenz
Im weiteren Verlauf seines Angriffs auf Reinhard Grindel stellt Özil die Kompetenz des DFB-Präsidenten und dessen Fähigkeit, seine Arbeit richtig zu machen, in Frage. Der Vorwurf der Inkompetenz hat seine Berechtigung, allerdings aus ganz anderen Gründen.
Seit dem Ende der Weltmeisterschaft steht Grindel zu Recht unter großem Druck, was seine Entscheidungen vor Turnierbeginn betrifft. Erst kürzlich hat er öffentlich gesagt, dass ich mein Verhalten noch einmal erklären sollte, und mich für die schlechten Mannschaftsergebnisse in Russland verantwortlich gemacht, obwohl er mir in Berlin noch gesagt hatte, dass es damit vorbei sei.
Ich spreche jetzt nicht für Grindel, sondern weil ich es will. Ich werde nicht länger meinen Kopf für seine Inkompetenz und Unfähigkeit, seine Arbeit richtig zu erledigen, hinhalten. Ich weiß, dass er mich nach dem Foto aus dem Team haben wollte und seine Meinung ohne Überlegung oder Rücksprache per Twitter publik gemacht hat, aber Joachim Löw und Oliver Bierhoff haben sich für mich eingesetzt und mich unterstützt.
Ich für meinen Teil glaube nicht, dass Grindel jemals die absurde Idee etablieren wollte, Özil allein sei für die Ergebnisse der Mannschaft in Russland verantwortlich zu machen, sondern dass das mit dem Erdoğan-Treffen entstandene Durcheinander nicht hinreichend eingedämmt worden ist. Dies wiederum hatte Auswirkungen auf die Moral der gesamten Mannschaft. Özil wurde nicht für das schlechte Abschneiden der Mannschaft verantwortlich gemacht, aber die von ihm in Gang gesetzte Ereignisreihe hatte einen Dominoeffekt. Es war der „Özil-Effekt“, nicht Özil selbst.
Nach dem Vorfall sah man Grindel verzweifelt um Ausreden ringen. Seine Kommentare zu Özil waren eindeutig im Sinne von „Ich habe es dir ja gesagt“. Das war natürlich höchst unprofessionell. Grindel war mit dem Strom geschwommen und hatte die Würfel geworfen. Als die Dinge nicht so liefen, wie er wollte, hätte er einfach schweigen und es mit Fassung tragen sollen. Bierhoff, der sich nach dem Russlandfiasko als erster weit aus dem Fenster gelehnt hatte, hätte man raten sollen, genauso vorzugehen.
Statt den Herd abzuschalten, entschieden sich Grindel und Co. einfach, die Dinge weiter köcheln zu lassen. Unterdessen gossen die Medien immer mehr Öl ins Feuer. Das Ergebnis war ein kompletter Kaiserschmarrn, bei dem der DFB wie ein Haufen inkompetenter Clowns dastand. Man hatte den „toten Frosch“ in einen Mixer geworfen und niemand vermochte das Gerät mehr auszuschalten.
Im Nachhinein wäre es für Grindel vielleicht sinnvoller gewesen, vor dem Turnier mit der Faust auf den Tisch zu hauen und Löw und Bierhoff zu überstimmen. Um die Sache im Keim zu ersticken. Im Gegensatz zu Gündoğan hatte sich Özil kategorisch der offiziellen Position des DFB zu Erdoğan verweigert. Nachdem alle Optionen ausgeschöpft waren, wäre es für den DFB sinnvoller gewesen, den Schaden frühzeitig zu minimieren.
Man kann sich nur ein ungefähres Bild davon machen, was hinter den Kulissen vor sich ging. Auf der einen Seite des Zauns Grindel, der den Ausschluss Özils fordert. Auf der anderen Seite Joachim Löw, der einen seiner Lieblinge nicht fallen lassen will. In der Mitte Oliver Bierhoff. Wenn man sich die Situation so betrachtet, fällt es viel leichter, die erste Äußerung Bierhoffs nach dem Turnier zu interpretieren.
Der Mann protestiert zu viel…
Nachdem sich Özil in seinem Zorn auf Reinhard Grindel konzentriert hatte, tauchte er jetzt kopfüber in ein Meer von Übertreibungen. Indem er seine ganz eigene Version eines abgegriffenen Themas produzierte, ertrank er am Ende in seinem eigenen Unsinn. Seine Feinde sind zahlreich, auch wenn er keine wirkliche Ahnung hat, wer sie sind.
In den Augen Grindels und seiner Anhänger bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, aber ein Immigrant, wenn wir verlieren. Obwohl ich in Deutschland Steuern zahle, deutschen Schulen Geld spende und 2014 mit Deutschland die Weltmeisterschaft gewonnen habe, bin ich immer noch kein Teil dieser Gesellschaft. Ich werde behandelt, als wäre ich „anders“. Als Beispiel für eine erfolgreiche Integration in die deutsche Gesellschaft erhielt ich 2010 den Bambi, 2014 das Silberne Lorbeerblatt der Bundesrepublik Deutschland und 2015 die Auszeichnung „Deutscher Fußballbotschafter“. Aber offensichtlich bin ich kein Deutscher…?
Zu keinem Zeitpunkt hat Grindel so etwas gesagt oder auch nur im Entferntesten angedeutet. Was bedeutet das für die „Anhänger“ des DFB-Chefs? Was für den DFB? Für diejenigen, die eine negative Meinung von Recep Tayyip Erdoğan haben? Für die verärgerten Fans? Für kritische Experten? Für den Rand der extremen Rechten?
Die Sentenz „Ich bin Deutscher, wenn wir gewinnen, und Immigrant, wenn ich verliere“ ist genauso sinnfrei wie abgedroschen, aber schön ausgeklügelt. Es ist ein kraftvoller und emotionaler Einzeiler, der perfekt darauf ausgelegt ist, die Armee der willigen Krieger für soziale Gerechtigkeit zu entfesseln. Klangvoll, knackig, kontrovers.
Das Gros der Kritik an Özil hob nicht direkt auf dessen Hintergrund oder Herkunft ab, sondern galt seiner übelgesinnten und (wie sich herausstellen sollte) reuelosen Haltung zu seinem Treffen mit dem türkischen Präsidenten. Wurde etwas Negatives über einen anderen deutschen Spieler mit Migrationshintergrund nach dem frühen Ausscheiden der Mannschaft in Russland gesagt?
Özil war längst in der deutschen Gesellschaft akzeptiert und ist seit dem Beginn dieses Jahrzehnts ein fester Favorit der Fangemeinde. Niemand, abgesehen von ein paar schrillen Stimmen ganz rechts und in dunklen Ecken des Internets, hat jemals behauptet, dass er etwas anderes als ein Deutscher sei. Wenn er sich wirklich anders behandelt fühlt, sollte er vielleicht mal mit sich selbst ins Gericht gehen.
Gibt es Kriterien für ein vollwertiges Deutschsein, die ich nicht erfülle? Meine Freunde Lukas Podolski und Miroslav Klose werden nie als Deutsch-Polen bezeichnet – warum bin ich also ein Deutsch-Türke? Liegt es daran, dass es hier um die Türkei geht? Hat es damit zu tun, dass ich Muslim bin? Das scheint ein wichtiger Punkt zu sein. Mit der Bezeichnung ‚Deutsch-Türke‘ kennzeichnet man bereits Menschen, deren Angehörige in mehreren Ländern leben. Ich wurde in Deutschland geboren und erzogen – also warum akzeptieren mich die Leute nicht als Deutschen?
Noch mehr Taktiererei. Weder Podolski noch Klose haben ihre Polnischkenntnisse je über das Mindestniveau hinaus entwickelt. Gedämpfte Feierlichkeiten. Höchstens zur Liebe zu kiełbasa oder hausgemachten Pierogi bekennt man sich. Keiner der beiden Spieler wurde je mit einem umstrittenen polnischen Politiker gesehen (und davon gibt es einige).
Ist Özils Türkentum das Problem? Ich würde sagen, nein. Hätte er ein Foto mit einem Mitglied der türkischen Opposition oder dem befreiten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel gemacht, wäre er von den deutschen Medien gelobt und nicht verurteilt worden. Stattdessen stellte er sich Seite an Seite mit einem Tyrannen, ohne einen Hauch von Reue zu zeigen.
Özils religiöser Glaube ist weder hier noch dort. Sami Khedira ist auch Muslim und trotzdem keiner solchen Medienschmierkampagne anheimgefallen – obwohl auch er einer jener Spieler ist, die in Russland nicht in die Startaufstellung hätten aufgenommen werden dürfen.
Abstieg in die Absurdität
Als ob Özils Versuch, Reinhard Grindel als Teil einer nebulösen, feindseligen proletenhaften Masse darzustellen, nicht schon schlimm genug wäre, steigt er noch weiter in den Abgrund der Absurdität hinab und stellt eine Verbindung her zwischen den Ansichten des DFB-Präsidenten und solchen, die man tatsächlich nur als abstoßend bezeichnen kann.
Die Ansichten Grindels finden sich auch anderswo. Ich wurde von Bernd Holzhauer (einem deutschen Politiker) wegen meines Bildes mit Präsident Erdogan und meiner türkischen Herkunft als „Ziegenf***er“ bezeichnet. Außerdem sagte mir Werner Steer (Chef des Deutschen Theaters), ich solle mich nach Anatolien „verpissen“, einem Ort in der Türkei, wo viele Einwanderer leben.
Es gibt absolut keinen Zusammenhang zwischen der Position von Reinhard Grindel und dem schändlichen Angriff in den sozialen Medien durch Bernd Holzhauer. Allein durch die Andeutung, dass die beiden Positionen identisch wären, begibt sich Özil auf dünnes Eis. Man könnte sogar sagen, dass seine Anschuldigung eklatant verleumderisch ist.
Werner Steers Äußerung ist bei weitem nicht so schlimm, passt jedoch kaum zu jemandem in seiner Position.
Nebenbei sei noch erwähnt, dass Holzhauer nicht annähernd so wichtig ist, wie Özil ihn in seiner Aussage darstellt. Der Politiker ist weder eine nationale Figur noch ein Parlamentarier, sondern Erster Stadtrat der hessischen Kleinstadt Bebra.
Es sei auch darauf hingewiesen, dass Holzhauer nicht einmal ein Vertreter einer rechten Partei ist, sondern ein Mitglied der örtlichen Sozialdemokraten. Steer ist auch nicht der „Chef des Deutschen Theaters“ (also der Theaterdirektor für ganz Deutschland), sondern der Geschäftsführer des Deutschen Theaters in München, einem von zehn Staats- und Stadttheatern in der bayerischen Landeshauptstadt.
Wie gesagt, es ist eine Schande, mich aufgrund meiner familiären Abstammung zu kritisieren und zu beschimpfen, und wenn Politiker Diskriminierung als Werkzeug für ihre Propaganda missbrauchen, sollte das zum sofortigen Rücktritt dieser respektlosen Leute führen. Diese Leute haben mein Foto mit Präsident Erdogan als Gelegenheit genutzt, um ihre bis dahin verborgenen rassistischen Tendenzen auszuleben, und das ist eine Gefahr für die Gesellschaft.
Sie sind nicht besser als der deutsche Fan, der mir nach dem Spiel gegen Schweden zurief: „Özil, verpiss dich, du scheiß Türkensau! Türkenschwein, hau ab!“
Hier gibt es kaum etwas zu diskutieren. Zwar kann man Özil durchaus für seine schlechte Wahl an Fotofreunden kritisieren und sogar verlachen, aber Rassismus jeglicher Art geht weit über die Grenze des Erträglichen hinaus. Der Ruf nach dem Rücktritt Holzhauers und Steers von ihren Ämtern ist durchaus berechtigt. Ebenso gehören sich rassistisch äußernde „Fans“ verbannt.
Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese empörenden Aussagen dieser vergleichsweise unbedeutenden Figuren überhaupt nichts mit Reinhard Grindel oder dem DFB zu tun haben. Es ist offensichtlich, dass Özil ein oder zwei Hühnchen rupfen wollte, aber keine Ahnung hatte, wie und wann er damit wieder aufhören sollte. Seine Anschuldigungen sind so abwegig, dass man sie bestenfalls als das Produkt einer lebhaften Fantasie bezeichnen kann. Einer schrecklichen Fantasie. Ein Märchen.
Graben nach Altlasten
Mit dem nahenden Ende des dritten Akts türmen sich die schlecht gezielten Angriffe und Widersprüche weiter auf. Nun gräbt Özil sogar Altlasten aus.
Ich möchte gar nicht erst über die Hasspost, Drohanrufe und Kommentare in den sozialen Medien sprechen, die meine Familie und ich erhalten haben. Sie alle stehen für ein Deutschland von damals, ein Deutschland, das sich neuen Kulturen nicht öffnet und auf das ich nicht stolz bin. Ich bin überzeugt, dass mir viele stolze Deutsche, die für eine offene Gesellschaft einstehen, zustimmen werden.
Niemand will, dass jemand Hasspost, Drohanrufe oder rassistische Kommentare erhält. Ebenso will niemand eine Rückkehr zum Deutschland von damals. Das Problem ist, dass Özil sich einerseits als Verteidiger einer offenen Gesellschaft preist, andererseits aber zu seiner Entscheidung steht, sich mit einem Mann zu treffen, der sich vorgenommen hat, das demokratische System in seinem Land lahmzulegen.
Unter Recep Tayyip Erdoğan ist die Türkei zu einer weitaus weniger offenen Gesellschaft geworden. Oppositionspolitiker werden zum Schweigen gebracht, Journalisten werden zensiert und inhaftiert, und die etablierten weltlichen Prinzipien, die einst die moderne Türkei ausmachten, werden allmählich zurückgefahren und durch einen schleichenden Islamismus ersetzt. Aber, hey, da lächelt man und verschenkt handsignierte Trikots.
Der Widerspruch ist überdeutlich und doch kann Özil ihn nicht erkennen. Oder vielleicht doch. Vielleicht ist er gar nicht so naiv und viel zynischer, als wir alle glauben.
Von Ihnen, Reinhard Grindel, bin ich enttäuscht, aber nicht überrascht über Ihr Verhalten. 2004 haben Sie als Mitglied des Bundestags behauptet, dass „Multikulturalismus in Wirklichkeit ein Mythos [und] eine Lebenslüge“ sei, als Sie gegen die doppelte Staatsangehörigkeit und die rechtliche Ahndung von Bestechungsdelikten stimmten, und gesagt, dass die islamische Kultur in vielen deutschen Städten zu stark verankert sei. Das ist unverzeihlich und unvergesslich.
Wenn ein kleines Zitat aus dem Jahr 2004 das Beste ist, womit Özil und seine Rechercheure aufwarten können, ist das ein sicheres Zeichen dafür, dass sie schlichtweg zu viel Zeit haben. Es ist ein verzweifelter Tiefschlag, der sich leicht kontern lässt. Im Jahr 2004 war eine solche Aussage zum Thema Multikulturalismus keineswegs überzogen. Noch 2010 sprach Angela Merkel davon, dass der Multikulturalismus in Deutschland gescheitert sei. Grindel war kein „rassistischer“ Einzelkämpfer, sondern ein Mitte-Rechts-Politiker, der lediglich die Position seiner Partei und ihrer Führung reflektierte.
Was den Vorwurf des Rassismus gegen Grindel und den DFB betrifft, so lässt sich dieser nur schwer nachvollziehen angesichts eines Reinhard Grindel, der sich 2016 schützend vor Jérôme Boateng stellte, nachdem der Verteidiger vom stellvertretenden Vorsitzenden der AfD, Alexander Gauland, beleidigt worden war.
Kaum hatte Gauland angedeutet, dass Boateng nicht der ideale Nachbar sei – oder etwas in diesem Sinne –, bezogen Grindel und der DFB sofort Stellung. Selbst die damalige AfD-Vorsitzende Frauke Petry schaltete sich daraufhin ein und bot eine Entschuldigung an.
War das nun derselbe „rassistische“ Reinhard Grindel, der Özils türkisches Erbe „heruntergespielt“ haben soll? Waren es dieselben „rassistischen“ deutschen Fans, die Özil und Gündoğan ausgebuht und in die Zange genommen haben, nachdem sie nur zwei Jahre zuvor den Boden mit Bannern bedeckt hatten, um ihre Solidarität mit Boateng zu bekunden?
Die Aussage Grindels von 2004 entsprach der damals vorherrschenden Meinung. Heute ist sie vielleicht sogar noch relevanter als damals. Deutschland muss akzeptieren, dass es ein multikulturelles Land ist, und es sollte etwaige Kritiker nicht daran hindern, Fragen zu stellen.
Man kann dem Multikulturalismus gegenüber skeptisch sein, ohne gleich dem Rechtsextremismus zu verfallen. Genauso sollte sich jeder kritisch äußern können, ohne gleich als Rassist bezeichnet zu werden.
Der Rückzug?
In großartiger Opernmanier tut unser tragischer Held einen letzten verzweifelten Schwerthieb, bevor er sich endgültig in den Abgrund der Selbstaufopferung stürzt.
Nach dem, wie ich vom DFB und vielen anderen behandelt worden bin, will ich das Trikot der deutschen Nationalmannschaft nicht länger tragen. Ich fühle mich unerwünscht und habe den Eindruck, dass das, was ich seit meinem internationalen Debüt im Jahr 2009 geleistet habe, in Vergessenheit geraten ist. Menschen mit rassistisch-diskriminierendem Hintergrund sollten nicht im größten Fußballverband der Welt arbeiten dürfen, der auch viele Spieler aus Familien mit doppelter Herkunft umfasst. Die Ansichten dieser Leute spiegeln einfach nicht die Spieler wider, die sie angeblich vertreten.
Es ist schwer vorzustellen, wie der DFB sonst noch hätte mit der Situation umgehen können, damit Özil damit zufrieden hätte sein können, wenn nicht durch ein völliges Einknicken und ein freundliches Lächeln angesichts des Treffens mit Erdoğan. Dafür wird nun ein Verband, der bei der Integration in die deutsche Gesellschaft eine wesentliche Rolle gespielt hat, im Kern als rassistisch bezeichnet. Özil formuliert es vielleicht nicht so deutlich, aber das ist ganz klar seine Absicht.
Der Spieler fühlt sich „unerwünscht“, übernimmt aber keinerlei Verantwortung für sein eigenes Handeln. Für ihn war das Treffen mit Erdoğan völlig unproblematisch. Schließlich suchte er nur „die Verbindung zu seinen Wurzeln“. Aus seiner Sicht gab und gibt es nichts, worüber man reden oder wofür man sich entschuldigen oder was man rechtfertigen müsste. Er würde es sogar wieder tun, wohl wissend, wie das Ganze womöglich ausgehen würde. Der DFB aber soll irgendwie damit klarkommen.
Das ist das Verhalten eines eigenmächtigen Kindes, das sich, wenn die Dinge mal nicht nach seinem Willen gehen, umdreht und lautstark schimpft. Ähnliche Gefühle hegte einst auch der ehemalige internationale Fußballer Cacau, der heute der Integrationsbeauftragte des DFB ist. Als Brasilianer, der hart daran gearbeitet hat, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben, bevor er 23 Länderspiele für die deutsche Nationalmannschaft gewann, dürfte er wissen, wovon er spricht.
Mit seiner Behauptung, dass Grindel (und vielleicht auch andere im DFB, etwa Cacau) einen „rassistisch-diskriminierenden Hintergrund“ hätten, stellt sich Özil nicht nur als egozentrischer Narr dar, sondern macht möglicherweise auch alle Fortschritte des Verbandes in der Arbeit mit Minderheiten und der Förderung junger Spieler mit doppelter Herkunft zunichte. In den deutschen Jugendkadern gibt es viele Spieler mit unterschiedlicher Herkunft, und ich hoffe, dass das eigenmächtige Meckern Özils keinen Einfluss auf ihren Wunsch, für Deutschland zu spielen, oder den Wunsch des DFB, sie in die Mannschaft aufzunehmen, haben wird.
Schweren Herzens und nach reiflicher Überlegung habe ich entschieden, aufgrund der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschland auf internationaler Ebene zu spielen, solange ich dieses Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit habe. Früher trug ich das deutsche Trikot mit Stolz und Begeisterung, aber jetzt nicht mehr. Diese Entscheidung ist mir sehr schwer gefallen, weil ich immer alles gegeben habe für meine Mitspieler, den Trainerstab und die guten Menschen in Deutschland. Aber wenn hochrangige DFB-Funktionäre mich so behandeln, wie sie es nun mal getan haben, sprich meine türkischen Wurzeln missachten und mich eigennützig für politische Propaganda benutzen, dann ist das einfach zu viel. Das ist nicht der Grund, warum ich Fußball spiele, und ich werde mich nicht zurücklehnen und tatenlos zusehen.
Nach all dem umständlichen Drama, den Anschuldigungen und so weiter, kommt Özil endlich zur Sache. Es ist eindeutig zu viel, um weiterhin für einen Verband zu spielen, der nicht in der Lage ist, Recep Tayyip Erdoğan zu akzeptieren, und es ist viel zu schmerzhaft, für Fans zu spielen, deren Beweggründe er nicht nachvollziehen kann. Niemand hat die türkischen Wurzeln Özils missachtet. Für politische Propaganda benutzt hat Özil sich selbst.
Rassismus darf niemals, niemals toleriert werden.
Hierin sind sich alle einig. Rassismus hat in der zivilisierten Gesellschaft keinen Platz, geschweige denn in etwas, das Menschen zusammenbringen soll. Aber es hat auch noch nie jemand gefordert, dass Rassismus akzeptiert werden soll. Hier liegt ein weiteres Strohmannargument vor.
Sündenbock?
Özil behauptet, man habe ihn zum Sündenbock für das Scheitern Deutschlands in Russland gemacht. Dafür gibt es jedoch keine konkreten Beweise. Ja, Oliver Bierhoff erwähnte ihn in seiner ersten Erklärung nach dem Turnier, und Reinhard Grindel forderte mit Nachdruck eine Erklärung für „Erdogate“. Aber zu keinem Zeitpunkt hat jemand aus dem DFB ausdrücklich mit dem Finger auf Özil gezeigt; denn die Mannschaft hat als Ganzes in Russland nichts auf die Reihe bekommen.
Die Behauptung ist absurd; man muss schon ein Idiot sein, um einen einzigen Mann für das Versagen von 22 weiteren Spielern plus Trainer, Assistenten und Hintergrundpersonal verantwortlich zu machen. Ebenso gut könnte man die gesamte Verantwortung auf das Catering-Personal abwälzen. Viele Kommentatoren haben die Behauptung einfach geschluckt und gar nicht bemerkt, wie abwegig sie eigentlich ist.
Niemand kann Özil für das, was auf dem Platz passiert ist, verantwortlich machen. Um diesen Punkt zu untermauern, sei nur daran erinnert, dass er lediglich in zwei der drei Partien mitwirkte. In einer davon war er sogar – zumindest statistisch gesehen – einer der besseren Spieler.
In einem früheren Artikel habe ich einige Theorien vorgestellt, die erklären könnten, wie und warum die deutsche Nationalmannschaft in Russland ihre schlechteste WM seit achtzig Jahren hingelegt hat. Eine Siegermannschaft, die sich auf ihren Lorbeeren ausruht; ein Jäger, der zum Gejagten wird. Schlechte Wahl von Kader und Mannschaft. Ein Trainer, der an seinen Lieblingen klammert. Ein Mangel an starker und entschlossener Führung auf dem Platz. Veraltete Taktiken. Die schlichte Tatsache vielleicht, dass die Gegner einfach ihre Hausaufgaben gemacht haben.
Der Özil-Effekt
Dann wäre da noch die Frage der Moral.
Vielleicht war nicht Mesut Özil der Fußballspieler schuld, sondern die Situation, die von Mesut Özil als Person geschaffen wurde. Eine Situation, von der DFB gehofft hatte, dass sie sich von allein auflösen würde, was sie aber nicht tat. Eine Spinne, die trotz zahlreicher Versuche, sie unter den sprichwörtlichen Teppich zu kehren, immer wieder hervorkam und herumschlich. Eine Spinne, die nach der vorzeitigen Rückkehr der Mannschaft, als alle verzweifelt nach Erklärungen suchten, ihren hässlichen Kopf emporreckte.
Moral ist eine sehr komplexe Geschichte, und es ist klar, dass Watutinki 2018 so schrecklich war wie Campo Bahia 2014 wunderbar. Die Aufrechterhaltung von Moral und der Aufbau von Kameradschaft sind sowohl ein Talent als auch eine Wissenschaft, und selbst damit ist es manchmal noch nicht getan. Hier ging alles schief.
Ohne in die vielen Diskussionen zwischen Trainer, Betreuern und Spielern eingeweiht zu sein, lässt sich nur schwer sagen, wie sehr genau die Erdoğan-Problematik die Moral der Mannschaft beeinträchtigt hat.
In seiner Erklärung nach dem Turnier sagte Bierhoff, die DFB-Geschäftsführung habe „die Nationalspieler nie zu etwas gezwungen … Wir haben vielmehr immer versucht, sie zu überzeugen. Bei Mesut ist uns das nicht gelungen.“
Wovon sollte er überzeugt werden? Was gelang nicht? Es war kein Sportproblem; es hatte eindeutig mit der Uneinsichtigkeit des Spielers zu tun, und mit seiner mangelnden Bereitschaft, sein Rendezvous mit Erdoğan ins rechte Licht zu rücken. Dies stand im krassen Gegensatz zu İlkay Gündoğan, der nicht nur darauf einging, sondern auch das Treffen mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier initiierte.
Man kann sich vorstellen, wie Erdogate und Özils mangelnde Bereitschaft zum Umdenken zu einem Streitpunkt für die anderen Mitglieder der Mannschaft hätte werden können. Dazu hätte es lediglich eines weiteren Spielers bedurft, der eine weniger positive Meinung als Özil über den türkischen Diktator hat.
Cliquen und Konflikte
Es ist keine leichte Aufgabe, 23 junge Männer auf einem geschlossenen Gelände weit weg von zu Hause im Zaum zu halten, und wenn einer oder mehrere von ihnen sich nicht am Riemen reißen, kann das zu Problemen führen. Kleinigkeiten eskalieren. Es kommt zu Konflikten und Cliquenbildung. Sich zwischen einem Brett- oder einem Videospiel zu entscheiden (auch um 4 Uhr morgens) ist eine Sache. Politische Differenzen sind eine völlig andere. Sie haben das Zeug dazu, eine Turnierkampagne zum Scheitern zu bringen – und in Russland ist vermutlich genau das passiert.
Solange uns die Spieler keine offenen Geständnisse machen, was wahrscheinlich nie geschehen wird, werden wir auch nicht wissen, wie es zu den beiden Cliquen kam. Wie alles begann und wie sich die Dinge entwickelten. In den meisten Fällen brauchen solche Vorgänge einen Katalysator. Kam es zu dem Bruch in der Truppe infolge von Erdogate? Setzte sich der Zerfall von da an fort, während Trainer und Verwaltung verzweifelt versuchten, das Gefüge zusammenzuhalten?
Auffällig ist, dass nur drei aktuelle Spieler Özil nach dessen Ankündigung öffentlich ihre Unterstützung angeboten haben. Zwei von ihnen – Jérôme Boateng und Julian Draxler – gehörten zur sogenannten Bling-Bling-Gruppe.
Vom Rest der Mannschaft kam nichts. Selbst von denen, die an der erfolgreichen U21-EM 2009 mit Özil teilgenommen hatten. Neuer. Hummels. Khedira. Vielleicht genießen sie alle ihren Urlaub und haben keine Zeit, sich in den sozialen Medien herumzutreiben, während der Strand ruft. Vielleicht haben sie auch nichts zu sagen. Es kann auch gut sein, dass sie nichts sagen wollen, aus Angst, heuchlerisch zu wirken.
Gescheitertes Glücksspiel
Angesichts der Äußerungen und aller vorliegenden Beweise möchte ich behaupten, dass die Erdoğan-Affäre und Mesut Özils mangelnde Bereitschaft, von seiner Position abzuweichen (eine Position, die er in seiner Erklärung ziemlich unverblümt und ohne Entschuldigung bekräftigt hat), ein massives moralisches Problem geschaffen hat. Die Gegenwart und Einstellung eines einzigen Spielers erzeugten eine so giftige Atmosphäre, dass sich die gesamte Mannschaft sowohl auf dem Spielfeld als auch jenseits davon infizierte.
Darauf deutete Oliver Bierhoff in seiner ersten Erklärung nach dem Turnier hin. Vielleicht war das auch der Grund, warum Reinhard Grindel so sehr darauf bestand, dass Özil sich dazu äußere. Auch Özil war nicht schuld an dem, was auf dem Platz geschehen war, wohl aber an seinem Beitrag – ob bewusst oder nicht – zur Störung der Gruppendynamik.
Es heißt, Grindel habe Özil abservieren wollen, sei dann aber von Bierhoff und Jogi Löw überredet worden, den Spielmacher im Kader zu lassen. Bierhoff bedauerte eindeutig, dass es nicht so kam, und sein offenes Bekenntnis hätte die „Sündenbock“-Debatte ausgelöst. Grindel wusste, dass es schwierig werden würde, sich gegen den Willen des Teamchefs und des Trainers durchzusetzen.
Um Özil aus dem Spiel nehmen zu können, hätte sich der Vorstand einstimmig dafür aussprechen müssen. Am Ende wurde beschlossen, alles zu lassen, wie es war. Als einer der größten Unterstützer Özils wäre Löw voll und ganz dabei gewesen. Bierhoff ließ es wohl drauf ankommen und hoffte, dass alles gut werden würde. Schließlich hatte es vorher auch immer geklappt. Grindel hingegen fühlte sich wohl in die Sache hineingezwungen. Er hatte eine klare Aussage zu Erdoğan gemacht, musste sich aber mit der für ihn offensichtlich unbefriedigenden Situation abfinden. Das erklärt vermutlich einige seiner Kommentare nach dem Turnier zu Özil und einer allgemeinen Dickköpfigkeit, die als unprofessionell empfunden wurde.
Am Ende war es ein Glücksspiel, das gescheitert ist. Wie bei jedem reuevollen Zocker, der erst merkt, was er getan hat, wenn alles Geld verloren ist, kam der Moment des „was ich hätte sagen und tun sollen“ erst im Nachhinein. Wie sehr Erdogate die Mannschaft tatsächlich beeinflusst hat, werden wir wohl nie wirklich erfahren.
In den Diskussionen, die seit Özils Erklärung stattgefunden haben, haben seine Anhänger konsequent angeführt, dass der Spieler immer wieder bestraft und verunglimpft worden sei, weil ihm ein „Fehler“, eine „Fehleinschätzung“ oder ähnliches unterlaufen sei. Das Problem ist: Wenn jemand einen Fehler macht, erkennt er diesen in der Regel auch an.
Die Rassismusdebatte
Manche sagen, Reinhard Grindel und der DFB seien schon wegen ihrer Bitte an Mesut Özil, sich an den Grundwerten des Verbands zu orientieren, per Definition rassistisch. Diese Behauptung ist bestenfalls dürftig.
Betrachten wir die Geschichte mal von einer anderen Seite. Was wäre passiert, wenn ein Spieler mit ungarischen Wurzeln während eines Wahlkampfes mit Viktor Orbán angebandelt hätte? Hätte der DFB eine ähnliche Erklärung gefordert und den Spieler dazu angehalten, sein Bekenntnis zu den Werten des Verbandes zu bekräftigen, hätte es dann einen ähnlichen Aufschrei von links und den Twitterati gegeben?
Ich wage es zu bezweifeln. Vielmehr ist wahrscheinlich, dass sich die Situation in die entgegengesetzte Richtung bewegt hätte. Der DFB wäre von der Linken unterstützt worden und der Spieler wäre kurzerhand aus der Mannschaft, der Stadt und darüber hinaus komplimentiert worden.
Rassismus ist real. Er ist überall. Bei politischen Meinungsverschiedenheiten geht es aber nicht immer um Rasse. Es sind lediglich unterschiedliche politische Meinungen. Özil zeigt weiter keine Reue über sein Treffen mit Recep Tayyip Erdoğan. Er hat ohne Vorbehalt erklärt, dass er genau so noch einmal handeln würde. Nach seiner Stellungnahme hat er mit Erdoğan gesprochen und wurde vom türkischen Präsidenten für seine „nationale und heimatnahe“ Haltung gelobt.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.
Die Beziehung Erdoğan-Özil
Die Beziehung zwischen Mesut Özil und Recep Tayyip Erdoğan ist entscheidend, wenn man ein Verständnis dafür entwickeln möchte, was hinter den Kulissen vorgefallen sein könnte. Der Spieler trifft den türkischen Politiker seit mindestens 2010, und es gibt zahlreiche Fotos, die dies belegen. Das freundliche Lächeln und die Trikotgeschenke begannen nicht erst im Mai 2018 in London.
Kommentatoren von beiden Seiten der Debatte haben diese Aufnahmen zur Untermauerung ihrer jeweiligen Standpunkte verwendet. Einerseits macht Özil seit fast einem Jahrzehnt mit Erdoğan gemeinsame Sache, also haben wir es mit deutlich mehr zu tun als nur einem simplen Fototermin. Andererseits: Wenn er schon so oft mit Erdoğan fotografiert worden ist, was war dann das Besondere an diesem letzten Treffen?
Die Antwort auf diese Frage liegt in der politischen Reise Erdoğans sowie in Özils Rolle als Mitreisender.
2010 war Erdoğan noch nicht Präsident der Türkei. Er war damals Premierminister, nachdem er 2003 ins Amt gewählt worden und von 1994 bis 1998 vier Jahre lang Bürgermeister von İstanbul gewesen war. 2010 wurde er von vielen als eine Art Reformer angesehen. Im Zuge des angestrebten Beitritts der Türkei zur EU war Erdoğan um eine gute Beziehung zu den europäischen Ländern bemüht. Deutschland mit seiner großen türkischen Bevölkerung wurde als natürlicher Verbündeter angesehen.
Damals gab es noch keine Probleme zwischen den beiden Ländern. Angela Merkel traf sich gern mit Erdoğan, und jedwede Begegnung zwischen Mesut Özil und dem türkischen Premierminister hätte wohl kaum Aufsehen erregt.
2014 übernahm Erdoğan das Amt des Präsidenten der Türkei von Abdullah Gül. Fast unmittelbar danach machte er sich daran, seinen Machtbereich auszubauen. Demokratische Institutionen wurden geschwächt, die Meinungsfreiheit wurde schrittweise abgeschafft und kritische Journalisten wurden entweder zensiert oder inhaftiert. Nach dem Ausbruch der Flüchtlingskrise 2015 verschlechterte sich das ohnehin schon wackelige Verhältnis zwischen dem türkischen Führer und der EU noch mehr.
Werkzeug oder Einfaltspinsel?
Spätestens von da an waren die Gefahrenhinweise unübersehbar. Bis 2010 hatten sich Deutschland und die Türkei im Wesentlichen in die gleiche Richtung bewegt. Zu 2016 hin änderten sich die Fahrtrichtungen. Beide Länder fuhren von nun an auf unterschiedlichen Gleisen. Wären Mesut Özil und seine Berater mit Vernunft begabt gewesen, wären sie auf den deutschen Zug aufgesprungen. Stattdessen blieben sie an Bord des Erdoğan-Zugs.
Für den größten Teil Europas war Erdoğan einfach ein widerwärtiger Politiker mit Herrschsucht. In Deutschland hatte das Thema noch eine weitere Ebene. Da viele Türken in Deutschland die doppelte Staatsangehörigkeit besaßen, waren sie auch für die Wahlen in der Türkei stimmberechtigt. Erdoğan trug seine Kampagne auch auf deutschen Straßen aus, und als deutsche Amtsträger sich darüber beschwerten, wurden ihnen kurzerhand „Nazi-Methoden“ vorgeworfen. Das war für viele in Deutschland der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Mesut Özil aber hielt Erdoğan weiter die Stange. 2010 war das noch kein Problem gewesen. Acht Jahre später sieht das schon ganz anders aus. Es gibt nur zwei mögliche Erklärungen für Özils Haltung. Entweder ist er ein echter Freund und Anhänger Erdoğans, oder er ist politisch naiv. Im Grunde genommen ist er also entweder ein Werkzeug oder ein Einfaltspinsel.
Als am 14. Mai 2018 die Kacke am Dampfen war, packte Özil wahrscheinlich das Gefühl, keinen anderen Weg mehr offen zu haben. Anders ausgedrückt: Er hatte sich für seinen Weg entschieden und wollte davon nicht mehr abkehren. Eine Brücke zurück zum deutschen Gleis war ihm angeboten worden, aber inzwischen ist klar, dass er sich dagegen entschieden hat. Vielleicht hatte er das Gefühl, dass er mehr verlieren würde, wenn er sich von seinem Freund Recep Tayyip entfernt, als wenn er sich an den deutschen Mast gebunden hätte.
Einige Leute, darunter Uli Hoeneß, haben versucht, die Affäre Erdogate in eine sportliche Angelegenheit umzumünzen. Eine flüchtige Analyse der Daten zeigt, dass dies einfach nicht möglich ist. Andere haben es inzwischen zu einer Rassismusfrage gemacht und die Position herumgetragen, dass Reinhard Grindel und mit ihm der DFB und sogar Deutschland als Ganzes auf einer irrwitzigen, masochistischen Mission unterwegs waren und den Spieler aus der Mannschaft jagen wollten.
Das Problem war weder sportlicher noch rassistischer Natur. Es handelte sich um ein politisches Thema, das verfälscht und verzerrt wurde und schließlich völlig aus dem Ruder lief. Der DFB hat es erst verfälscht, indem er nicht entschlossen genug auftrat. Özil verzerrte es dann, indem er sich hinter dem Vorwand des Rassismus versteckte.
Wer trägt die Verantwortung?
In einer Pressemitteilung nach Özils Stellungnahme räumte der DFB ein, dass Fehler gemacht worden seien. Man akzeptierte zwar, dass Mesut Özil nicht ausreichend verteidigt worden war, blieb aber gleichzeitig fest bei der Forderung nach einer Erklärung bezüglich des Fotos mit Erdoğan.
Sowohl Özil als auch Gündoğan hatten die blaue Lunte angezündet, und Özil ließ die Flamme weiter brennen. Es ist unbestreitbar, dass diese Geschichte ohne dem Treffen mit Erdoğan nie zu dem Ungetüm herangewachsen wäre, das es letztlich geworden ist. Reinhard Grindel und der DFB ihrerseits haben die Situation völlig falsch gehandhabt. Bei ihrem Versuch, das Problem unter den Teppich zu kehren, haben sie die öffentliche Meinung fehlinterpretiert. Es war eine toxische Mischung aus Dummheit und Inkompetenz.
Will man einen genauen Überblick darüber erhalten, wer für das Problem verantwortlich ist, ist zunächst entscheidend, wo man nach Informationen sucht. Auf Twitter gab es eine breite und weitgehend vorbehaltlose Unterstützung für Özil. Das liegt daran, dass sich die überwiegende Mehrheit der Fußballexperten aus dem einen oder anderen Grund einer linksliberalen Agenda verpflichtet fühlt.
Unter den deutschen Fans hingegen fand ich ein viel ausgewogeneres Meinungsspektrum vor. Die Menschen waren offener für eine eher kritische Haltung gegenüber Erdogate, und eine gute Menge stimmte zu, dass es vielleicht besser gewesen wäre, Özil abzusetzen, nachdem der erste Versuch des DFB, eine Entschuldigung aus ihm herauszubekommen, gescheitert war. Viele dieser Menschen stimmten ferner zu, dass sich der DFB der mehrfachen Inkompetenz schuldig gemacht hatte.
Diese Ansicht wurde von der deutschen Öffentlichkeit weitgehend geteilt. In einer Umfrage der ARD gaben 47 % der 1047 Befragten an, dass sie die Verantwortung sowohl auf der Seite Özils als auch des DFB sahen. 29 % sahen die Verantwortung allein beim Spieler und nur 14 % allein beim DFB.
Who is responsible for the split between Mesut #Oezil and the German Football Association #DFB? This is what #Germany thinks:
29% say Mesut #Özil
14% say the DFB
47% say bothSource: A representative survey of 1,047 Germans by the @ARDde #DeutschlandTrend pic.twitter.com/n8MlbsoAWB
— Joscha Weber (@joschaweber) July 27, 2018
Natürlich besteht kein Zweifel daran, dass einige Leute diese Zahlen verwenden werden, um zu suggerieren, dass das „alte Deutschland“ wieder auf der Lauer liege.
Der Weg nach vorn
Es gibt zwei naheliegende Wege, wie die Geschichte ausgehen kann. Entweder kommt es noch zu einer Nabelschau und unnötigen Selbstprüfung oder es wird endlich ein Schlussstrich unter die Sache gezogen. Der DFB sollte sich ernsthaft mit seiner Rolle in diesem Sommer-Fiasko und mit der eignen Inkompetenz befassen. Der Verband befindet sich allerdings in keiner Krise.
Reinhard Grindel, der unter der Affäre einen Schlussstrich ziehen will, sollte so ehrenhaft sein und zurücktreten. Die Vorwürfe des Rassismus sind zwar haltlos, aber es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass es unter seiner Ägide zu einer der peinlichsten Episoden in der Geschichte des DFB kam. Das Krisenmanagement des Verbandes war beschämend, und allein das sollte die Position von Grindel unhaltbar machen.
Özil hat vielleicht seine Brücken abgerissen, aber da ist immer noch İlkay Gündoğan. Der DFB muss unmissverständlich klarmachen, dass eine weitere Viktimisierung nicht toleriert werden kann. Während die Buhrufe unmittelbar nach der Fotogeschichte mit Erdoğan verständlich waren, gibt es dafür keine Rechtfertigung mehr.
Gündoğan ist ein talentierter junger Sportler und sollte weiter Fußball spielen dürfen. Er hat seine Buße getan.
Was Özil betrifft, so ist dies ein trauriges Ende einer schönen internationalen Karriere. Manchmal war es frustrierend, ihm zuzusehen. Nicht selten brachte er einen dazu, sich die Haare zu raufen. An anderen Stellen war er wiederum einfach nur magisch. Jeder wird seinen unvergesslichen Özil-Moment haben. Für mich war es sein atemberaubender Erfolg 2010 gegen Ghana.
Özil ist und bleibt ein Rätsel. Irgendwie hatte man schon immer das Gefühl, dass es einmal so kommen würde. Während Größen wie Bastian Schweinsteiger oder Lukas Podolski unvergessliche Abschiede hinlegten, hatte man bei Özil die Ahnung, dass die Dinge mit ihm anders enden würden. Vielleicht ist es so am besten.